Leseprobe:
Symphonie des Schweigens und der Irrtum der Psychologie
Kapitel 1 - Zwölf Stunden bis zur Hinrichtung
In irgendeiner Zeitschrift hatte ich gelesen, dass menschliche Muskeln niemals älter als sechzehn Jahre sind. Sie erneuerten sich in diesem Zeitraum. Offensichtlich durch Zellteilung. Sie befanden sich demzufolge ständig in der Pubertät. Was bedeutete, dass achtzigjährige Menschen die gleichen Voraussetzungen besaßen, ihren Körper sportlich zu stählen, wie achtzehnjährige. Bis zu meinem achtzigsten Geburtstag war es zwar weit hin, doch ich fühlte mich seit Längerem so, als hätte ich sie schon überschritten. Der Bericht über die pubertierenden Muskeln gab mir deshalb eine aufmunternde Zuversicht und ich prüfte von da an, hin und wieder, meinen nackten Körper. Vor dem mannshohen Spiegel balancierte ich auf den Zehenballen und suchte meine Beine nach Muskulatur ab. Leichte Schwellungen zeugten davon, dass die täglichen Spaziergänge etwas bewirkten. Den Rest dieses Körpers versuchte ich zu ignorieren, doch aus den Augenwinkeln heraus nahm ich, durch die gleißende Helligkeit der Sakristei und der leichten Wölbung des antiken Spiegels, die kleinsten Unebenheiten auf der Haut wahr. Mein Blick hatte Schwierigkeiten, sich von den weißen, fast durchsichtigen Brusthaaren zu lösen. Die sterbenden Haare verdeutlichten boshaft den Verfall des Körpers, wiesen auf die gelebten Jahrzehnte hin, und schenkten meiner alternden Nacktheit einen Hauch barocker Verderbtheit. Wie gerne würde ich das Äußeres übersehen und die inneren Werte hervorheben, das Gute in mir. Wenn es nur existieren würde. In den Augen suchte ich, ob sich meine Seele wieder eingefunden hatte, fand aber nichts anderes als Leere. Christis Augen verfolgten mich, wo immer ich in der Sakristei stand. Überpräsent hing er am Kreuz und beobachtete mich, stumm und anklagend. Von mir wurde er ignoriert und ich verhielt mich so, als nähme ich seine Blicke nicht wahr. Es war das Kreuz, an dem er für die Menschheit gestorben war und das die Christenheit von seiner Göttlichkeit überzeugte. Vor einigen Jahren hat mich ein Mörder auch an solch einem Kreuz gehängt. Seitdem hatte ich ein gestörtes Verhältnis zu diesem Symbol und das schloss Christus mit ein. Für einen Priester ein unmöglicher Zustand. In manch trunkenen Stunden war ich sogar überzeugt davon, dass Jesus niemals existiert hatte. Für meine Psyche wäre es angebracht, alle Kreuze aus der Kirche zu entfernen. Das aber war undenkbar. Für den Rest der abergläubischen Gemeinde stünde ich dann mit Satan auf einer Stufe. Deshalb trank ich. Der Wein hielt mein Innerstes prächtig beisammen und den Frieden in der Kirchengemeinde aufrecht. Langsam kleidete ich mich an und war erstaunt, wie mein Körper, mit jedem Kleidungsstück, an Figur gewann. Bis auf das Kollar im Priesterkragen war ich völlig in Schwarz gekleidet. Von der Tür der Sakristei aus, übersah ich das gesamte Innere der imposanten Basilika. Durch die bleiverglasten Fenster strahlte buntes Sonnenlicht ins Kircheninnere. In dem Pfirsichstaat, wie Georgia genannt wurde, schien die Sonne immerwährend zu scheinen, selbst bei Regen. Die Wolken hatten hier offenbar weniger Dichte als anderswo. Der permanent aufwirbelnde Staub animierte die Partikel des einfallenden Lichts zu einem eigenartigen Tanz. Sie verharrten still im Raum und schienen, zeitlos, woanders wieder auf. Bis zum Zeitpunkt meiner Übernahme war die Kirche der kulturelle und spirituelle Dreh- und Angelpunkt der Gemeinde. Bis auf den letzten Platz hatten sich die Gläubigen gedrängt. Das änderte sich im Laufe der Zeit. Mein Mangel an Begeisterung hielt die Besucher fern. Heute waren bei den Predigten nur wenige Plätze belegt. Mein Blick schweifte von der Kanzel ab und verlor sich in dem Ambiente des gigantischen Bauwerks. Das flirrende Licht ließ die Kirche wie eine Gruft aus einem alten Film erscheinen. Der dunkelgebeizte Beichtstuhl stand an der Wand des Mittelschiffs, düster, ausladend und hoheitsvoll. Er symbolisierte den Himmel und ein wenig mehr die Hölle. Wohl dem, der nicht sündigt, drohten die ins Holz geschnitzten Dämonen. Die kunstvoll eingearbeitete Rose mahnte an die verpflichtende Verschwiegenheit. „Was unter der Rose gesagt, das verpflichtet zur Geheimhaltung“. Und genau diese Geheimnispflicht raubte mir alle Lebensqualität. Zu meinen Beichtstunden fanden sich immer nur einige wenige Beichtende ein. Lieber wäre mir, niemand käme. Dann würde ich den Beichttag abschaffen. Zu allem Überfluss war ich davon überzeugt, dass die immer gleichen Sünder, einzig darauf aus waren, meine Schmerzgrenze zu prüfen. Eine Zeitlang rächte ich mich für diese vage Vermutung und zögerte die Freisprechung ein wenig heraus, gaukelte vor, dass ein Vergeben nicht möglich wäre. Ihr anfängliches Entsetzen war Balsam für meinen geschundenen Geist. Aber, dieser Spaß nutzte im Laufe der Zeit ab, er verflüchtigte sich. Und die Beichtkinder warteten nachsichtig auf den Segen, egal, wie lange ich sie hinhielt. Sobald ich in dem düsteren Holzkasten auf Beichtkinder wartete, deren einfallslose Sünden ich fürchtete, veränderten sich für mich die physikalischen Gesetze. Die von den geschnitzten Dämonen geschützte Atmosphäre erzeugte eine Zeitdehnung. Eine Stunde im Beichtstuhl verlängerte sich um das Dreifache. Das träge Halbdunkel legte sich, wie zäher Leim, auf die Uhrzeiger, verklebte mir die Augenlider und das Gehirn.
Der Irrtum der Psychologie wird eingeleitet
Christis Blut stand stets griffbereit, in einem unauffälligen Thermobehälter, neben meinem linken Bein. Das Gefäß besaß eine doppelte Wandung, um Kaffee oder Tee warmzuhalten. Und, er hielt kalten Wein kühl. Meist hatte ich, bevor mein erstes Beichtkind mich durchzustehen zwang, was kaum zu ertragen war, den Behälter schon zu einem Drittel geleert. In Gedanken an die Rose und an die bedrückende Atmosphäre des Beichtstuhls, überfielen mich erneut die Bilder. Frankie in der Todeszelle, der beichtende Mörder und Ken, der Leibhaftige. Sie flüsterten mir zu, dass es nicht beendet sei. Es war jetzt fast zehn Jahre her. In Erinnerung sah ich mich, in einem dieser verführerisch müden Momente, zwischen Einschlafen und Wachsein, in dem Beichtstuhl sitzen und eine, tiefe, melodisch klingende Stimme unterbrach sanft die Stille: „Gelobt sei Jesus Christus, ich habe gesündigt.“ Kraftlos hob ich meine Hand, deutete ein Segnen an und antwortete: „In Ewigkeit Amen.“ Nach einer Sekunde der Besinnung fragte ich den neben mir Knienden, wann er das letzte Mal beichten war. Er hätte niemals zuvor gebeichtet, sagte er. Seine Stimme kam mir bekannt vor. Der Herr in seiner unendlichen Güte würde allen, die wahrhaftige Reue zeigten, vergeben, und er könne mir von seinen Sünden erzählen, murmelte ich routiniert. Er beichtete mir die Anzahl der Menschen, die er umgebracht hatte, und erzählte von den Grausamkeiten, die er seine Opfer erleiden ließ. „Ach“, sagte er ergänzend, „ich bereue meine Sünden und bitte unseren Herrn Jesus Christus um Vergebung.“ Es dauerte eine geraume Weile, bis der Sinn seiner Worte sich mir entschlüsselte, bis mein Gehirn sie verstand. In dieser Zeit nickte ich immerzu und schaute dabei von links nach rechts und wieder nach links. Wie jemand der, arm an Geist, den rettenden Intellekt suchte. Neben mir kniete ein Serienmörder und beichtete seine Morde! An seiner Stimme hatte ich ihn erkannt. Ein schneller Seitenblick durch das Messinggitter, das den Beichtenden von dem Beichtvater trennte, bestätigte mir das. Aus den Organen strömend fühlte ich, wie die Stresshormone meinen Körper überfluteten. Ein Serienmörder, der seine bitterbösen Freveltaten beichtete, und ich hatte ihn erkannt. Gott! Die Erkenntnis, dass ich nicht mehr lange leben würde, erzeugte, statt Fluchtreflexe, einen beklemmenden Panzer aus Angst, Panik und Starre. Gerne hätte ich geweint, um mein Leben gebettelt oder mich totgestellt. Aber ich war erstarrt. Der Irrtum der Psychologie beginnt.
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